Kultur & Gespenster 21
Archive und Depots … und Lager und Halden und Haufen und Bunker und Verliese und Kammern. Der Lockdown hat den Schädlingen – Motten, Schimmelpilzen und Käfern – in den Archiven gutgetan. Die relative Ruhe, Dunkelheit und fehlende Störungen durch Besucher und Mitarbeiter*innen haben seit März perfekte Bedingungen für Larven und erwachsene Tiere gleichermaßen geboten.
Die »relative Ruhe« hat in der Redaktion dazu geführt, diese Ausgabe endlich fertigzustellen. Wir hoffen, dass Sie ungestört durch Mitarbeiter oder Besucher*innen, aber bei guter Beleuchtung Zeit finden werden, diese Ausgabe zu lesen; inhaltlich gibt es (bis auf eine private Anzeige) keinerlei Verbindungen zur Pandemie.
Die Zeiträume sind andere. Die Bildstrecke der Rabenhügel in diesem Heft macht die Sachlage deutlich. Diese Hügel, weit verteilt in der Landschaft, sind von Raben- und Raubvögeln angelegt. Sie entstanden, weil die Vögel immer auf dieselben Stellen schissen, die im Laufe von Jahrzehnten und Jahrhunderten zu ansehnlichen Aussichtsposten heranwuchsen.
Der Terminus »Archiv« hat auf dem Weg durch die Historien und Disziplinen einige Bedeutungsverschiebungen und -erweiterungen erfahren. Er wird heute zunehmend metaphorisch benutzt (s. o.) oder im globalen Sinne als Kulturtechnik und Institution der Gedächtnisbildung aufgefasst, weniger institutionell oder situativ-konkret verwendet.
Wir haben uns ein wenig umgetan in diesen Kontexten und Stichproben zusammengetragen. So viel vorweg, die Ideen, wie ein Archiv auszusehen und zu funktionieren hat, unterscheiden sich eklatant von den tatsächlichen Verhältnissen in diesen Institutionen.
Inhalt: DIE LUST UND DIE NOTWENDIGKEIT I Die Archivfalle. Über Killer-, Staub- und Müllarchive. Julia Fertig
DIE SINNLICHE GEWISSHEIT »Aus dem Verzeichnis der Rabenhügel. Kothaufen auf dem Mittelatlantischen Rücken« Anna Guðjónsdóttir
DIE LUST UND DIE NOTWENDIGKEIT II Archive? Archive! Das Künstlerarchiv im Raum des Buchs. Maike Aden
Das Archiv der geschredderten Kataloge. Ein Angebot, sich durch eine symbolische, aber auch handfeste Geste von gedruckten Erzeugnissen zu distanzieren. Andra Joeckle, Michalis Pichler
Maßlose Sammelexzesse: Groß- und Kleinsein im Messie-TV. Das Fernsehen als Austragungsort kultureller Konflikte. Das kollektivphantasmatische Gewicht von Abfall, Schrott und Reinigungsritualen. Insa Härtel
Marie Enderlin: Zeichnerin, Künstlerin und Löffelsammlerin am Museum für Völkerkunde in Hamburg. Rahel Wille
Phonografieren, Archivieren, Verschlingen: Warum, was gehört werden könnte, selten zu lesen ist. Historische Tonaufnahmen als Teil des Kolonialarchivs Anette Hoffmann
Ethnologische Sammlungen. Keine Apologie – eine Richtigstellung. Fritz W. Kramer
Wir erobern den südlichen Kontinent im Dunst einer 10-Pfennig-Zigarre Lothar Baumgarten, Michael Oppitz und Clémentine Deliss
DIE SINNLICHE GEWISSHEIT »Alca impennis 1990–2017« Jochen Lempert
DIE LUST UND DIE NOTWENDIGKEIT III Einblick ins Depot. Durch die Enthüllung des »Backstage-Raums« wird die Entstehung eines neuen Backstage-Raums hinter der Bühne unvermeidlich. Damit ist man der Entmystifizierung oder Demokratisierung des Museumsbetriebs nicht näher gekommen. Nicky Reeves (Übersetzung, Birthe Mühlhoff)
Der Fang ruhte abgestorben in den Kühlkammern weißer Wißgier. Das Berliner Völkerkunde-Museum Carl Einstein (1926)
Wie anarchisch sind deine Entscheidungen? Ulrich Lang im Gespräch mit Nora Sdun
Material Girl. Die Arbeit von Restauratoren anhand einiger Beispiele aus der Sammlung Goetz. Bei der Entscheidung, ein Kunstwerk anzukaufen, sind Probleme konservatorischer und restauratorischer Art nicht relevant. Marianne Parsch
DIE VERSTELLUNG Containerumschlag auf dem Betriebsgelände der Berliner Hafen- und Lagerhausgesellschaft mbH. Bettina Vismann
DIE LUST UND DIE NOTWENDIGKEIT IV The Pages of Day and Night – von Saatguttresoren und Herbarien in der Kunst von Pia Rönicke. Über Lagerstätten im Permafrost – sicher vor Erdbeben, Überflutungen, gezielten Bombenangriffen und nuklearen Katastrophen. Magdalena Grüner
Entsorgung auf der Deponie. Die bekanntesten DDR Sondermülldeponien hatten utopischen Decknamen: Schönberg, Schöneiche und Freiheit III. Über Müllimporte und Entsorgung. Anna Zett
DIE TUGEND UND DER WELTLAUF Albedo. Observationen auf Neumayer III (Tagebuch einer Südpolarexpedition) Judith Neunhäuserer
Weitere Autorinnen:Redaktion Chodzinski, Oskar Dillhof, Raphael Gross, Nina Goll, Philipp
Hartwig, Björn
Mayer, Alexander
Mechlenburg, Gustav
Niebuhr, Frederike
Sdun, Nora